Ein Ende 2022 ergangenes Urteil des Oberlandesgerichts von Berlin, das sich Kammergericht nennt, scheint zu einer erheblichen Haftungsverschärfung für professionelle Winterdienstleister zu führen. In der Folge würde sich der Kontrollaufwand für Dienstleister erheblich erhöhen.
Was war geschehen? Nach ihren Darstellungen ist die spätere Klägerin am 19. Dezember 2020 gegen 11 Uhr auf dem Gelände einer Klinik in Berlin gestürzt, weil sich auf den dortigen Wegen Glatteis befand. Der Betreiber der Klinik hatte die Verkehrssicherungspflicht mit einem Vertrag über Winterdienstleistungen auf ein anderes Unternehmen übertragen. Dieses Unternehmen verteidigte sich im Prozess mit der Begründung, an dem betreffenden Tag habe in Berlin keine allgemeine Glättegefahr bestanden.
Unstreitig hatte die Temperatur nach den Messdaten der Flugwetterwarte Berlin-Brandenburg um kurz nach 11 Uhr mindestens 2,4 °c betragen. Gemäß den Angaben des Unternehmens lag die Temperatur an dem betreffenden Tag zwischen 7,1 °c (Hhstwert) und 0,1 °c (Tiefstwert). Es habe auch keinen Niederschlag gegeben. Von einer lediglich lokalen Glätte auf dem Klinikgelände habe er keine Kenntnis haben können und müssen, weshalb ihm kein Vorwurf gemacht werden könne.
Das Landgericht Berlin hatte die Klage ohne Beweisaufnahme abgewiesen, letzlich also kurzen Prozess gemacht. Es könne nicht festgestellt werden, dass am Unfalltag zur Unfallzeit die behauptete Unfallstelle überhaupt gestreut werden musste. Dies sei von der insoweit darlegungs- und beweispflichtigen Klägerin schon nicht konkret genug vorgetragen worden.
Anders sah das das Kammergericht Berlin (Urteil vom 6. Dezember 2022 – 21 U 56/22) im Berufungsverfahren. Nach Beweiserhebung durch die Vernehmung eines Zeugen und die Anhöhrung der Klägerin hat es den Winterdienstleister verurteilt.
ARGUMENTE DES KAMMERGERICHTS
Aufgrund der Aussage des Zeugen war das Gericht davon überzeugt, dass auf dem Klinikgelände die Wege jedenfalls seit circa 9 Uhr und bis zum Zeitpunkt des Sturzes der Klägerin weitgehend, also über längere Strecken hinweg, vereist und deshalb sehr rutschig und nicht gestreut waren, sodass man dort als Fußgänger leicht ausgleiten und hinfallen konnte. Aus diesem Grund hätte der Winterdienstleister jedenfalls um 10 Uhr die Glätte auf den Wegen durch das Streuen mit abstumpfenden Materialien bekämpfen müssen. Dabei sei es unerheblich, ob zu dieser Tageszeit möglicherweise keine allgemeine Glätte in diesem Stadtteil von Berlin herrschte.
Zwar bestehe eine Streupflicht nur dann, wenn entweder allgemeine Glätte herrscht oder wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass jedenfalls im Bereich der Flächen, auf die sich die Verkehrssicherungspflicht bezieht, aufgrund vereinzelter Glättestellen ernsthaft Gefahr droht. Für die Prüfung des Pflichtenmaßstabs komme es aber auf den primär Verkehrssicherungspflichtigen an, der vor Ort den Verkehr auf bestimmten Flächen eröffnet, vorliegend also der Klinikbetreiber. Wenn dieser typischerweise deutlich früher dazu in der Lage ist, Gefahrenstellen wahrzunehmen, als der Winterdienstleister selbst, müsse für diesen Dienstleister auf die Möglichkeiten des Klinikbetreibers abgestellt werden, weil ansonsten der Schutzstandard für die geschützten Personen im Endergebnis verringert würde.
Dies gilt auch unter ausdrücklicher Berücksichtigung des möglicherweise unverhältnismäßigen Aufwands, den der Dienstleister dann hat, wenn er auch ohne allgemeine Glätte das Gebiet, für das er zuständig ist, vorsorglich auf ernsthafte lokale Glättegefahren hin absuchen muss. Er könne sein Risiko dadurch ausschließen oder reduzieren, dass er in seinen Vertrag mit dem primär verkehrssicherungspflichtigen eine Regelung aufimmt, wonach dieser ihn dann, wenn er eine entsprechende Glättegefahr wahrnimmt, hierfür innerhalb eines gewissen Zeitabstandes informieren muss.
GRUNDSÄTZLICH MITHAFTUNG
Aus hiesiger Sicht kann man über das Urteil und die Begründung des Kammergerichts Berlin durchaus diskutieren. lnsbesondere das Argument, wonach bei einer Enscheidung zugunsten des Winterdiensleisters der Schutz dritter Personen durch die Übertragung der Verkehrssicherungspflicht verringert würde, überzeugt eher nicht. Grundsätzlich haftet der primär verkehrssicherungspflichtige (vorliegend der Klinikbetreiber) nämlich auch bei Übertragung der Verkehrssicherungspflicht auf ein Drittunternehmen in gewissem Umfang weiter. Er muss insoweit ein verlässliches Unternehmen in ausreichendem vertraglichen Umfang beauftragen, überwachen und kontrollieren. Aus hiesiger Sicht geht hierzu auch, dass dann, wenn der Dienstleister die erforderlichen Maßnahmen nicht ergreift, der primär Verkehrssicherungspflichtige, der dies bemerkt, seinerseits aktiv werden muss. Vorliegend hätte also der Klinikbetreiber zu dem Zeitpunkt, als er bemerken konnte und musste, dass die lokale Glättebildung von dem Winterdienstleister nicht beseitigt worden war, diesen auch ohne zusätzliche vertragliche Absprachen entsprechend informieren und anweisen oder die Glätte vorsorglich sogar selbst beseitigen müssen.
Keinesfalls konnte er den bestehenden und für ihn erkennbaren Zustand einfach über mehrere Stunden hinnehmen. Es spricht also einiges dafür, dass der primär verkehrssicherungspflichtige vorliegend gegenüber der Geschädigten hätte haften müssen und dass es dementsprechend nicht erforderlich war, mit der Begrüdung einer Haftungsverringerung zulasten der Geschädigten die Pflichten und die Haftung des Winterdienstleisters zu verschärfen.
PRAKTISCHE EMPFEHLUNG
In der Konsequenz des Urteils des Kammergerichts sollten Unternehmen, die Winterdienste leisten, in ihre Verträge Regelungen aufnehmen, wonach der primär Verkehrssicherungspflichtige, regelmäßig der Eigentümer / Auftraggeber, dazu verpflichtet ist, den Dienstleister innerhalb eines bestimmten Zeitraums darüber zu informieren, wenn er entsprechende Risiken, beispielsweise Glätte, wahrnimmt. Wenn Auftraggeber hierzu bereit sind (woran aus meiner Sicht erhebliche Zweifel bestehen, weil der Auftraggeber durch die Übertragung des Winterdienstes und der Verkehrssicherung damit ja gerade nichts mehr zu tun haben möchte), müsste er die konkrete Ausgestaltung und darüber, ob und wie solche Vertragsklauseln unter AGB-rechtlichen Aspekten wirksam gestaltet werden können, noch einmal näher nachgedacht werden.
Erschienen im September 2023 in der Ausgabe vom 3. Quartal 2023 des Flächenmanager, Das Magazin für Profis in der Grün- und Arealpflege. Flächenmanager im Internet.